Hans Gottlob Rühle
Kritische Gedichte
Marburger-Vogelwelt

HANS GOTTLOB RÜHLE - GEDICHTE
KRITISCHE GEDICHTE

ZUM EINGANG INS GERICHT

Aus dem unermeßlich
tiefen und rätselhaften
Brunnen der Gerechtigkeit
zu schöpfen,
heißt,
ausgeliefert sein.

Tritt nun ein, Du,
der das Recht Suchende,
der dem Recht Vertrauende

und vergiß dies nie!

IKAROS

Würde das tiefe
Blau des Wassers
seinen Sturz
verwandeln

Kann der warme
Sonnenwind das
Kind zu den Gestaden
seiner Träume tragen

Werden Morgennebel
mit wicher Watte
schützend ihn
ummanteln

Unter ihm liegt
selbst der Olymp
hinter ihm die
Weisheit der Alten.

Vergessen längst, daß
zwischen den Welten
niemand
heimisch werden kann.

AZURKÜSTE

Blauer Wind wischt
über rotes Gestein.
Mit heißen Fingern erwürgt
die Sonne Mimosenblüten.

An ihren Gestaden
wohnte das Glück,
nur dürres Buschwerk
begleitet den Blick zurück.

Tote Agaven winken
aus Ruinen.

Der Himmel verliert sich
in der Leere des Horizonts.
Wo Motorengeheul schon
lange verklungen,
träume keiner mehr von
Casino und Chic.

So wird hier keine
Yacht mehr landen,
kein Negresco mehr gebaut,
keine Palme mehr gewässert
keine Diva mehr geschaut.

ALTERSHEIM IN TRIBERG

Anklage eines Alten.

Hohe Mauern,
Altersheim.

An den Fenstern
Drei Gesichter
- Bleich Gesicht
Wein doch nicht.

Einsam ist es
im Gemäuer,
lästig sind wir
Alten Euch!
Alter, Schmerzen, Krankheit - fort!
Ekel zieht durch Eure Stuben.

- Wer soll Ekel hier empfinden?
Der, alte Väter, Mütter
aus der Fülle ihres Daseins
in das fremde Heim verbannt?

Oder der, der alt geworden
abgeschoben und vertrieben
ins Exil, die Fremde zieht?

- Auch die Jugend muß vergehen,
wird dort an den Fenstern stehen.

- Bleich Gesicht!
Starren auf das
bunte Treiben
- Wein doch nicht!

Starren aus den
dunklen Fenstern,
- in das Licht!

Einsam auf den Sonntag wartend,
auf des Priesters schalen Trost,
auf des eingen Kinds Besuche,
die nicht kommen,
- auf den Tod.

Ekel zieht durch die Gemäuer,
Alter, Schmerzen, Krankheit
- Not.

Jugend, Freiheit,
Frische, Freizeit.

Ach -
wär ich doch endlich tot.

KAFKA’S STERBEN
aus Kafka’s
und Doris Diamant’s
letzten Briefen
an dessen Eltern

,Alles ist wie gesagt
in den besten Anfängen.
Aber auch die besten Anfänge
sind doch nichts ...

Meine Wohnung ist so schön,
daß ich fürchte, ich werde
sie bald wieder verlieren
müssen.

April 1924. bettlägerig.
fiebrig. Kehlkopftuberkulose.
Prächtig erblühte Rose einst.
In Gedanken schon verwelkt.

Zermürbt in den Abgründen von
Selbstzweifeln, in der ewigen
Bewegung des Abwägens und Aufhebens,
die keine Aussage bestehen läßt.

Erzwungene Mühsal
im tödlichen Ringen;
projeziert jetzt Bilder lebenslänglich
fortgesetzter Säuglingsfaulheit:

“Höchstens das Essen ist ein
wenig anstrengender, als es
das stille Saugen damals
gewesen sein mag.”

Vergebliche Versuche der Exculpation
im Willkomm, in
der schillernden Verniedlichung
unabänderlicher Tatbestände.

Die Seele zerrieben im Hin und Her
von Selbstbezichtigung und
Befreiung zugleich, zerfressen
im ausweglosen Überlebenskampf.

Zwar bliebe uns die
Illusion der Gegenwehr, die
Hoffnung der Verlorenen: alles
könnte vielleicht noch gut ausgehen.

Doch man weiß es alles nur
zu genau. Das kennt man!
Die Bejahung der Widersprüche
läßt wenigstens im Augenblick
das Schlimmste uns erscheinen
als das Bestmöglichste.

Was tät ich, wenn jetzt
Prag anläutet?

Die Wohnung so
unangenehm kalt.
Und doch sehr angenehm,
da es das
Telefonieren fast
verhindert.

Husten, fiebrig, hilflos,
kalt. Einsamer April 24.

Ihr dürft dem Doktor
nicht böse sein. Er
versteht auch nicht mehr,
als er kann.

Bitte,
wenn es irgendwie möglich,
eine Daunensteppdecke
zu schicken,

In der Klinik bekommt er
nur das Notwendigste.
Und kaufen
ist so teuer.

So ist es gegangen.
So wird es immer
wieder gehen.
Man weiß es genau.

Er widerspricht nun
- nicht mehr.

DEPRESSION

Ich ziehe mein Inneres
über meinen Kopf
und verberge mich
darin.

Ich lege dein Klettband
über meine Zunge
und verschließe die Welt
vor mir.

Ich quetsche Rosenblüten
in meine Augen und
züchte ihre Dornen in
meinen Höhlen.

KOSOVO-FRÜHLING

Regenschauer mit Schnee vermischt.
Das Dorf liegt leblos im Tal.

Die letzten Hühner gackern giftig.
Ein Hund irrt suchend zwischen Zäunen.

Bäume mit gebrochenen Fingern.
Häuser mit blutender Stirn.

Der Sturm heult nur gedämpft.
Ferner Donner hat ihm den Mut genommen.

Ein Trupp Bewaffneter streicht durch die Gassen.
Vielleicht wird es im Sommer hier

- wieder wärmer.

LAND OHNE HOFFNUNG -
KOSOVOWINTER 1998/99

Nur noch wenige Kilometer
bis zur Stadt.
Das Schneetreiben ist dichter geworden.

Menschen schleppen schweigend
Lasten in ihren Rucksäcken.
Die Führer noch immer im schalen Pathos.

Die Stadt verharrt in Finsternis und Kälte.
Kolonnen streben von irgendwo nach nirgendwo.
Land ohne Lichtschein, ohne Fenster, ohne Tür.

Ein wenig Milchpulver gäbe eine Chance bis morgen.
Es träumt von Morgen. Morgen ist Sommer.
Im Augenblick ist kein Krümel mehr da.

Morgen werden Frauen und Kinder
die angefrorenen Gemüsereste
aus den Tonnen des Supermarkts holen.

Morgen fährt kein Zug mehr nach nirgendwo.
Die Bahnhöfe bleiben, auch morgen
dunkel und unbeheizt.

Stürzt sich auf die letzten Fahrzeuge hinab,
Zwängt sich vergebens zwischen
Türen und Fenster.

Langsam zieht die Kolonne
am Straßenrand,
Tag und Nacht über die Straßen
im Reich der untergegangenen Sonne.

Sack und Pack auf Handkarren.
Magere Bündel in der Dunkelheit.
Äste für ein unbekanntes Feuer.

Im Metallbett das Kind
auf schmutzigem Laken, ganz still.
Die Mutter schon verhundert.

Über angstgeweiteten Augen, über den Frost
zieht eine Hand die braune Decke:
Du wirst nie wieder frieren.

Werden mit kleinen Besen
die letzten Kuchenreste
vom Boden fegen.

Über dem verschneiten Land
sammelt sich ein Schwarm
von Kindern.

Die letzten hundert
mögen es gewesen sein,
aus jenem Land.

 

NOCH EINMAL EINE SCHOENE ZEIT HABEN

Der letzte Ausflug war Höhepunkt und Abschluß zugleich.
Im Duft der besten Currywurstbude der Stadt
seine beglückten Sinne baden,
daunenweiches Eintauchen in den Frittennebel.

Seit Wochen kann er schon nicht mehr essen.
Am Tropf.
Jeder der fallenden Tropfen löst
ein Trauma aus.

Wenn schon sterben, dann in den eigenen vier Wänden.
Daheim sein, bevor der Heimgang endgültig ist,
das Aufstehen, das Waschen, die Gespräche, der Tod.

Zeit der extremen Stimmungsschwankungen.
Aufgewühlt und zerrissen von Angst und Zorn.
Die Krankheit, die Fakten akzeptieren zu lernen,
nur kein: was wäre wenn ... oder ... warum denn gerade ich?

DAs Leben geht stets weiter, jetzt aber ohne Dich.
Ein jeder hofft bis zuletzt,
auf Besserung, auf ein Wunder, auf ein wenig
Zeitgewinn, auf das Leben nach dem Tod.

Nur einmal noch ein paar Tage nur,
so leben wie früher, so unbeschwert.
Einfach noch einmal eine schöne
Zeit haben, im Süden, in der Sonne, am Meer.

Doch im Krankenhaus ist das Schlimmste
das Sterben nebenan.
Wenn Du in das Einzelzimmer
verlegt wirst, wissen schon alle Bescheid.

Schreiend im Bett liegen. Gerade nachts ist
die innere Unruhe, der Schmerz am Größten.
Die Medizin liebt die Sterbenden nicht.
Der Tod zeigt das Versagen ihrer Kunst.

Apparate quälen den Kranken rastlos,
ohne Rücksicht auf seine Lebensqualität.
Hilflos im Bett liegen. Von Schläuchen,
Summen und Gerät am Sterben gehindert.

Ich schäme mich so, anderen zur Last zu fallen.
Kein Kot ohne Hilfe.
Es fällt so schwer, Wut und
Angst zurückzuhalten.

Jede Minute fühlen, wie kostbar
die Zeit und das verrinende Leben ist.
Gesunde leben nicht. Verzetteln sich
mit Problemen, die keine sind.

Aufkeimender Neid gegenüber den Gesunden.
Er macht mich rasend. Die vormals
hoffnungsvollen Blicke aus dem Fenster: Alle,
alle da draußen besitzen eine Perspektive.

Ich hätte gerne auch noch einmal
von diesem Kuchen genascht.
Ein Hauch, kaum noch hörbar.
Am Tag darauf kam der Tod.

Die letzten Stunden im Morphiumschlaf verdämmert.
Unendlicher Schlaf ohne Traum.
Freunde waren noch bei ihm
in dieser Stunde.

WEIHNACHTSMARKT

Jesus geboren,
Markt im Lichterglanz.
Finsternis Bethlehems,
Glühwein und Sternentanz.

Kürzer die Tage,
dunkler der Sinn,
schmerzvoll treibt unser
Leben dahin.

Auf! Suchen wir Feste
in unserer Gruft.
Erleben die Weihnacht
mit Mandelduft.

Die lieblichen Weisen
ertönen so hell.
Die Ware im Fenster
beleuchtet ganz grell.

Oh armer Jesus,
Du Kind im Stall.
Du wolltest doch ein-
mal erlösen
- uns all!

Hoffnung und Freude,
Lamettaglimmer.
Ich laß mich verzaubern
vom irdischen Schimmer.

Wir brauchen kein Kind.
Weg mit dem Stall!
Bethlehems Supermarkt
jetzt überall.

ARBEITSLOS

Sturz in die Tiefe
Ich schreie im Traum
Die Arbeit verloren
Gefällt ist der Baum.

Klagen sind fruchtlos
Nackt steh ich vor Dir
Die Zukunft verloren
Wem graut nicht vor mir?

Die Selbstachtung finden
Bestehen vor andern
Am Schluß bleibt Verzweiflung
In Einsamkeit wandern.

 

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